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In Böhmen hatte sich unter dem Reichsratsabgeordneten Kramár (dem späteren ersten Ministerpräsidenten) ein Nationalausschuss gebildet. Unter seinem Dach waren alle tschechischen politischen Parteien zusammengeschlossen. Der Nationalausschuss hatte sich mit den tschechischen Exilpolitikern solidarisch erklärt. So konnte am 28. Oktober 1918 gleichzeitig in Prag und in Washington die Tschechische Republik proklamiert werden. Dieser neue Staat hatte das besondere Problem, dass zwar seine Regierung, nicht aber seine Grenzen zu den Nachbarn von den Siegermächten anerkannt wurden.
Das auf die vierzehn Punkte Wilsons gestützte Selbstbestimmungsrecht der Völker ließ erwarten, dass es von der Friedenskonferenz respektiert würde. Auch in diesem Punkt hatten die Deutschen die Rechnung ohne die Tschechen gemacht. Vom Tag ihrer Staatsgründung an verfuhren letztere in den entscheidenden Punkten fast immer zweigleisig. Die Worte, die Außenwirkung erzeugen sollten, waren meist anders als die Taten im Inneren. Die Tschechen verstanden es schon immer und bis auf den heutigen Tag meisterhaft, das Grundthema der tschechischen Leidensgeschichte so zu formulieren, dass sie im ständigen Kampf zwischen den friedlichen slawischen Urbewohnern Böhmens und den gewalttätig eindringenden Germanen-Deutschen leben und sich verteidigen müssten.
Im Dezember 1918 besetzten sie die von Ungarn besiedelten Gebiete in der Slowakei, und die sudetendeutschen Provinzen, die sich an Deutsch-Österreich angeschlossen hatten, mit militärischer Gewalt. Österreichische wie ungarische Proteste bewirkten nichts, die Alliierten ließen die Tschechen gewähren. So wurden mit Gewehren und Bajonetten vollendete Tatsachen gegen den Willen der Bevölkerung geschaffen. Was die Tschechen von dem neugebildeten Vielvölkerstaat nach Schweizer Muster wirklich hielten, sagte der Abgeordnete Rain bereits am 4.11.1918: Das Selbstbestimmungsrecht ist eine schöne Phrase - jetzt aber, da die Entente gesiegt hat, entscheidet die Gewalt. Masaryk ergänzte am 23.12.1918: Was die Deutschen Böhmens betrifft, so ist unser Programm seit langem bekannt. Die von den Deutschen bewohnten böhmischen Gebietsteile sind und bleiben unser.... Wir haben diesen Staat erkämpft, und die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen, die einst als Immigranten und Kolonisten hierhergekommen sind, ist damit ein für allemal festgelegt. Wir haben ein gutes Recht auf die Reichtümer unseres gesamten Landes ...[1]
An der 1919 beginnenden Friedenskonferenz nahmen die tschechoslowakischen Delegierten als Vertreter einer Siegermacht teil. Die Vertreter Deutsch-Österreichs (der eine sudetendeutsche Delegation angeschlossen war) wurden als Besiegte nicht zu den Verhandlungen zugezogen. Sie wurden nur angehört, hatten die Beschlüsse entgegenzunehmen und durch ihre Regierung vollziehen zu lassen. Ihre Vorschläge wurden vom Tisch gewischt.
Der tschechische Außenminister Benesch hatte in St.Germain eine rege diplomatische Tätigkeit entfaltet. Er versorgte die Verhandlungspartner der Siegerstaaten mit zahlreichen, meist gefälschten Angaben, Vorschlägen und Karten. Das im Januar 1919 erarbeitete Memoire III[2] strotzte von Unwahrheiten, war aber für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung.
Schon zwei Monate später, am 4. März 1919, wurde Benesch widerlegt. An diesem Tag trat in Wien das Volkshaus der deutsch-österreichischen Republik zu seiner ersten Sitzung zusammen. Den Deutschböhmen war die Teilnahme an der am 12.2.1919 stattgefundenen Wahl der Abgeordneten zum Volkshaus von den Tschechen und den Alliierten verboten worden. Alle politischen Parteien des Sudetenlandes, linke wie rechte, hatten für den 4. März 1919 zum Generalstreik und zu friedlichen Demonstrationen aufgerufen. Die Generalstreikparole wurde vollständig befolgt, die Demonstrationen verliefen friedlich. Trotzdem schoss tschechisches Militär in verschiedenen Städten in die friedlich demonstrierenden Deutschen. Dabei waren 54 Tote und 104 Verletzte zu beklagen.
An dem gleichen 4. März 1919, etwa gegen 16 Uhr, sagte Benesch vor der Friedenskonferenz in St. Germain laut Sitzungsprotokoll: Die Sudetendeutschen wollen die Tschechoslowakei. Die gegenteiligen Bemühungen sind nichts anderes als eine künstliche Aufregung, die der Überzeugung der großen Mehrheit der Deutsch-Böhmen niemals entsprochen habe. In Wahrheit sind 99% von ihnen für eine Vereinigung ihres Landes mit Böhmen. Sie werden jedoch von ein paar Aufwieglern terrorisiert und wagen nicht, dies auszusprechen.[3]
Jeder Sudetendeutsche, der die erste tschechoslowakische Republik miterlebt hat, steht fassungslos vor soviel Dreistigkeit und Verlogenheit. Auf diesen schon damals brüchigen Fundamenten wurde der neue Staat aufgebaut, kein Wunder, dass er nicht von Bestand sein konnte. Dieses staatstragende Lügengeflecht von Außenministser Benesch war so gravierend, dass die wahrheitsgemäße Darstellung der Gründungsvorgänge der CSR weder in Wort noch in Schrift geäußert werden durften, sondern nach § 14,1 des Staatsschutzgesetzes vom 19.3.1923 als Aufwiegelung mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden konnte.
Die amerikanische Regierung
hatte Prof. Archibald Cary Coolidge als Sonderbeauftragten ihrer Friedensdelegation
für das ehemalige Österreich-Ungarn bestellt. Nach Abschluss seiner
Erkundungsreisen durch die Länder der ehemaligen Donaumonarchie gab er
zu den Problemen des neugeschaffenen Staates Tschechoslowakei am 19. März
1919 (also zwanzig Jahre vor dem Münchener Abkommen) folgende Stellungnahme
ab:
.... Würde man den Tschechoslowaken das ganze Gebiet zuerkennen,
das sie beanspruchen, so wäre das nicht nur eine Ungerechtigkeit gegenüber
vielen Millionen Menschen, die nicht unter tschechischer Herrschaft gelangen
wollen, sondern es wäre auch für die Zukunft des neuen Staates gefährlich
und vielleicht verhängnisvoll. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen
in Böhmen sind in den letzten drei Monaten immer schlechter geworden (infolge
der Okkupation durch tschechische Milizen). Heute besteht zwischen ihnen tiefe
Feindschaft und man kann nicht erwarten, dass sie in naher Zukunft überwunden
werden wird. Das Blut, das am 4. März geflossen ist, als tschechische Soldaten
in mehreren Städten auf die deutsche Menge feuerten, ist auf eine Art und
Weise vergossen worden, die nur schwer verziehen werden kann ....
Betrachtet man die Grenzen Böhmens und Mährens der Reihe nach,
so bin ich der Ansicht, dass
a) Im Süden Nieder- und Oberösterreich so weit als möglich bis
zur jetzigen ethnischen Grenzlinie auszudehnen wäre,
b) dem Bezirk Eger, der nicht zum ursprünglichen Böhmen gehört,
die Vereinigung mit Bayern gestattet werden sollte, wenn er dies wünscht
(König Ludwig der Bayer hatte 1322 die Stadt Eger und das Egerland für
2000 Mark Silber an Johann von Luxemburg bei Garantie der völligen
Unabhängigkeit vom Königreich Böhmen verpfändet.);
c) im Fall des großen reichen Nordböhmen ist die Frage viel schwieriger.
Von Sachsen ist es durch natürliche Hindernisse getrennt; es ist von großem
wirtschaftlichem Wert und sein Verlust wäre für die Tschechoslowakei
ein schwerer Schlag. Wenn andererseits - was offensichtlich der Fall ist - der
Wunsch nach einer Trennung von Böhmen mit überwältigender Mehrheit
laut wird, so ist die Rechtmäßigkeit dieses Anspruches nicht zu bestreiten.
Wird er erfüllt, so sollte man in Zweifelsfällen zu tschechischen
Gunsten entscheiden. Wird er nicht erfüllt, so müsste dem Gebiet von
Eger eine größtmögliche Ausdehnung gegeben und auch andernorts
Modifikationen im Rahmen des Möglichen durchgeführt werden.
d) Das sogenannte Sudetenland (Deutschmähren und Deutschschlesien)
kann leicht von Böhmen und Mähren abgetrennt werden. Unglücklicherweise
hat es keine Verbindung mit Österreich oder dem übrigen Deutschböhmen.
Es könnte als Kleinstaat innerhalb der neuen deutschen Republik bestehen
oder mit Preußisch-Schlesien verbunden werden ....[4]
Dem Coolidge-Bericht lag zu den Teilungsvorschlägen eine Karte bei, die viel Ähnlichkeiten mit jener der Münchner Konferenz von 1938 hatte. Die Empfehlungen der Coolidge-Mission wurden, nach entsprechender Vorarbeit des tschechischen Außenministers Benesch, von der Pariser Friedenskonferenz genauso verworfen, wie die Proteste der österreichischen Regierung. Ebensowenig erhielten die Vertreter der sudetendeutschen Volksgruppe Dr. Lodgman von Auen und Josef Seliger Gelegenheit, ihre Bedenken und Vorschläge vorzutragen.
Der englische Diplomat Harold Nicolson hat als britischer Experte an der Friedenskommission in Paris mitgewirkt. In seinem Buch: Friedensmacher 1919 stehen im Kapitel Versagen folgende Sätze: Wir kamen nach Paris in der festen Zuversicht, dass eine neue Ordnung im Entstehen sei; wir verließen Paris mit der Überzeugung, dass die neue Ordnung lediglich die alte nur noch mehr verdorben hatte.... Wir kamen mit dem Entschluss, einen Frieden der Gerechtigkeit und Weisheit zustande zu bringen; wir gingen mit dem Bewusstsein, dass die Verträge, die unseren Gegnern aufgezwungen wurden, weder gerecht noch weise waren ...[5]
In dem mit dem Deutschen Reiche geschlossenen Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 wurden in Abschnitt VII. Tschecho-Slowakei folgende Regelungen getroffen:[6]
Artikel 81: Deutschland erkennt, wie die alliierten und assoziierten Mächte es schon getan haben, die vollständige Unabhängigkeit der Tschecho-Slowakei an, die das autonome Gebiet der Ruthenen südlich der Karpathen mit einbegreift. Es erklärt sein Einverständnis mit der Abgrenzung dieses Staates, wie sie durch die alliierten und assoziierten Hauptmächte und die anderen beteiligten Staaten erfolgen wird.
Artikel 82: Die Grenze zwischen Deutschland und der Tschecho-Slowakei bildet die alte Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich, so wie es am 3. August 1914 bestand.
Artikel 83: Deutschland verzichtet zugunsten der Tschecho-Slowakei auf alle Rechte und Ansprüche auf den folgendermaßen umschriebenen Teil des schlesischen Gebietes (Es folgt eine Beschreibung des Hultschiner Ländchens.).
Artikel 86: Die Tschecho-Slowakei ist damit einverstanden, daß die alliierten und assoziierten Hauptmächte in einem mit ihr zu schließenden Vertrag die Bestimmungen aufnehmen, die sie zum Schutze der Interessen der nationalen, sprachlichen und religiösen Minderheiten in der Tschecho-Slowakei für notwendig halten ...
Auf diesen Diktatfrieden bezogen sich indirekt im Münchner Vertrag von 1938, womit die vorgenannte Friedensvertragsregelung korrigiert wurde, die Signatarmächte England, Frankreich und Italien.
Im Friedensvertrag von St. Germain vom 10. September 1919 wurden im II. Teil die rechtlichen Vereinbarungen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei (nun nicht mehr Tschecho-Slowakei geschrieben) festgelegt. Damit erkannte Österreich die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei an und verzichtete auf alle Rechte und Ansprüche auf die Gebiete, die der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie angehörten, die jenseits der Grenzen Österreichs, wie sie in Artikel 27 dieses Friedensvertrages festgelegt wurden, lagen. In Artikel 57 verpflichtete sich die Tschechoslowakei ihrerseits, einen von den alliierten und assoziierten Mächten ausgearbeiteten Minderheitenschutz anzunehmen.
Dieser Minderheitenschutzvertrag wurde gleichfalls am 10. September 1919 abgeschlossen.
Entgegen allen wohltönenden Versprechungen der tschechischen Seite auf internationalem Parkett und den im Minderheitenschutzvertrag vom 10. September 1919 ein St.Germain eingegangenen Verpflichtungen wich die ein halbes Jahr später verabschiedete ¡SR-Verfassung in erheblichen Punkten davon ab, ohne dass dies von den vertragschließenden Mächten beanstandet wurde. Die Staatsverfassung vom 29. Februar 1920 kam ohne jedwede demokratische Legitimation zustande. Die Mitglieder der mit ihrer Ausarbeitung beauftragten Revolutionären Nationalversammlung waren weder durch ein gewähltes Parlament noch durch einen Volksentscheid legitimiert. Sie setzten sich fast ausschließlich aus Tschechen und nur wenigen Slowaken zusammen. Alle im neuen Staat lebenden Minderheiten waren ausgeschlossen.
In der gleichen, nicht demokratisch legitimierten Zusammensetzung wurde am 29. Februar 1920 noch schnell das Sprachengesetz durchgepeitscht und damit die tschecho-slowakische Sprache als Staatssprache eingeführt. Seine Regelungen verstießen noch eklatanter gegen den Minderheitenschutzvertrag der Signatarmächte vom 10.9.1919 als die Staatsverfassung vom 29.2.1920.
Die dazu erlassene Durchführungsverordnung bestimmte, dass sich die nicht-tschechischen Staatsdiener innerhalb von 6 Monaten einer Prüfung in der Beherrschung der Staatssprache zu unterziehen hatten. Die sehr rigoros und schikanös durchgeführten Prüfungen kosteten 32.000 Deutschen ihren Arbeitsplatz. An ihrer Stelle wurden zur gleichen Zeit 42.000 Tschechen eingestellt, deren Posten nach dem Minderheitenschlüssel eigentlich den Deutschen zustanden.
Eine Statistik aus jener Zeit belegt dies deutlich. [7]
|
Deutsche |
Tschechen |
||
Jahr |
1921 |
1930 |
1921 |
1930 |
Gerichtswesen und öffentliche Verwaltung |
||||
Beamte |
11 804 |
7 348 |
44 692 |
47 608 |
Bedienstete |
9 527 |
5 728 |
38 826 |
42 128 |
Post |
||||
Beamte |
5 666 |
2 730 |
13 252 |
19 148 |
Bedienstete und Arbeiter |
4 501 |
3 165 |
14 484 |
19 191 |
Bahnen |
||||
Beamte |
9 352 |
4 437 |
29 354 |
26 478 |
Bedienstete und Arbeiter |
26 818 |
13 968 |
85 945 |
101 465 |
Unterricht und Erziehung |
||||
Beamte |
19 180 |
17 796 |
41 900 |
53 802 |
Bedienstete und Arbeiter |
1 904 |
1 548 |
3 724 |
5 021 |
|
|
|
|
|
Summen |
88 752 |
56 032 |
272 537 |
314 841 |
Veränderung gegenüber 1921 |
|
- 32 032 |
|
+ 42 304 |
Die gleiche Revolutionäre Nationalversammlung verabschiedete am 16. Februar 1919 auch ein Bodenreformgesetz. Als Begründung für die Enteignung mußte das im Jahre 1620 erlittene Unrecht herhalten. Am Beginn des Dreißigjährigen Krieges ging es in Wirklichkeit um die religiös verbrämte Frage kaisertreu oder nicht. Seinerzeit wurde nicht nur tschechischer, sondern ebenso auch deutscher Adel enteignet. Unter den 1621 in Prag hingerichteten siebenundzwanzig Rädelsführern waren zehn Deutsche. Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag war damals nicht eine Niederlage der Tschechen. Das Bodenreformgesetz hatte die Assimilierung der deutschen und ungarischen Minderheiten zum Ziel, denn diese waren von der Zuteilung enteigneten Bodens ausgeschlossen. Darüber wachte ein eigenes Bodenamt, das keiner parlamentarischen Kontrolle unterlag.
Im ersten Parlament, das erst ein Jahr später, am 18. April 1920 gewählt wurde, saßen, entsprechend ihrem Nationalitätenanteil, unter den insgesamt 300 Abgeordneten 72 Deutsche, davon 31 Sozialdemokraten. Sie behielten ihre Mehrheit bis 1935, wenngleich mit späteren Stimmenverlusten.
Als das neugewählte Parlament
am 1. Juni 1920 zusammentrat, verurteilte der deutsche parlamentarische Verband,
in dem alle deutschen Parteien zusammengeschlossen waren, den Friedensvertrag
von St. Germain. Die sudetendeutschen Abgeordneten erklärten u.a.:
...Die Tschechoslowakische Republik ist daher das Ergebnis eines einseitigen
tschechischen Willensaktes und hat diese Gebiete widerrechtlich und mit Waffengewalt
besetzt. Die deutschen Sudetenländer sind in der Tat um ihren Willen niemals
befragt worden, und das Ergebnis der Friedensverträge ist daher mit Beziehung
auf sie die Sanktionierung eines Gewalt-, aber niemals eines Rechtszustandes.
[...] Unrecht kann auch durch tausendjährige Übung niemals Recht werden,
solange es nicht von den Betreffenden selbst auf Grund freier Entschließung
anerkannt wurde, und wir verkünden demnach feierlich, dass wir niemals
aufhören werden, die Selbstbestimmung unseres Volkes zu fordern, dass wir
dies als den obersten Grundsatz aller unserer Maßnahmen und unseres Verhältnisses
zu diesem Staate, den gegenwärtigen Zustand als unser unwürdig und
mit den Grundsätzen moderner Entwicklung unvereinbar betrachten.
[8]
Nachdem die Friedensverträge unumstößliche Fakten geschaffen hatten, mußten auch die Minderheiten ihr Verhältnis zu diesem neuen Staat definieren. Die sudetendeutschen Parteien spalteten sich später in die Aktivisten und Negativisten. Die Verweigerer einer politischen Mitwirkung (Negativisten, wozu ab 1922 nur noch die DNSAP [Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei] und die DNP [Deutsche Nationalpartei] gehörten) lehnten die tschechisch-nationalistische und zentralistische Staatsstruktur ab. Als sich nach den Parlamentswahlen vom November 1925 die Parteienlandschaft zu Gunsten der Kommunisten verschob, wurde auf der sudetendeutschen wie tschechischen Seite die heftig umstrittene Frage einer Regierungsbeteiligung akut. In das Kabinett des Ministerpräsidenten vehla traten ab 1926 die deutschen Minister Spina (vom Bund der Landwirte als Minister für öffentliche Arbeit) und Mayr-Harting (von der Christlichsozialen Volkspartei als Justizminister) ein. Die Tschechen wollten sich damit ein außenpolitisch wirksames Aushängeschild schaffen. Die Strangulierungsmaßnahmen gegen die Minderheiten wurden in der Folgezeit sogar verschärft. Ab 1929 sandte die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP) Ludwig Czech als Minister für Soziale Fürsorge in das Kabinett. Die Hoffnung der aktivistischen Parteien, die damals etwa 80 % der sudetendeutschen Wähler hinter sich hatten, auf eine Besserung der Minoritätenpolitik ging nicht in Erfüllung. Dies zeigte sich alsbald in den zunehmenden Ungerechtigkeiten der Bodenreform, des Schulwesens, sowie die über das Kreditwesen in ihrer Konkurrenzfähigkeit behinderte deutsche Industrie.
Mit der 1927 eingeleiteten Gebietsreform wurden die Bezirke und Kreise neu geordnet und ihre Grenzen, wo es irgend möglich war, so verändert, dass entweder eine tschechische Mehrheit entstand oder die dort lebenden Minderheiten unter einen Zwanzigprozentanteil sanken und somit keine Rechte nach dem Minderheitsschutzgesetz geltend machen konnten. Das Land Schlesien, das eine mehrheitlich deutsche Bevölkerung hatte, wurde ganz aufgelöst und zu Mähren geschlagen.
In vierundzwanzig Petitionen wandten sich die sudetendeutschen Vertreter ab 1920 an den Völkerbund in Genf, um sich gegen Missachtung der Friedensvertragsvereinbarungen durch die tschechische Regierung zu beschweren. Sie blieben alle ergebnislos. Heute macht die Welt mit der von einzelnen Mächten beherrschten UN ähnliche Erfahrungen.
Die durch den New Yorker Börsenkrach vom 4. Oktober 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise schlug auch auf die CSR voll durch. Einer der industriellen Schwerpunkte Österreich-Ungarns lag in Deutschböhmen. Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie waren ihre traditionellen Märkte weggefallen. Daher mußten neue Auslandsmärkte aufgebaut werden. Die Ausfuhr erreichte 1928 ein Volumen von 21,2 Milliarden Kronen, das, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, bis 1933 auf 5,8 Milliarden schrumpfte. An dieser Entwicklung hatte die Prager Regierung keine Schuld, wohl aber an den Maßnahmen, die sie zur Wiederbelebung der Wirtschaft einleitete.
Die zu 90% in sudetendeutschen Händen liegende Textil-, Glas- und Porzellanindustrie war zu Massenentlassungen und Betriebsschließungen gezwungen. Auch der Braunkohlebergbau und die Papier- und Zementproduktion, die zu 80% und die chemische Industrie, die zu 60% in deutschem Besitz waren, wurden in Mitleidenschaft gezogen. Von 27 Bezirken, in denen es mehr als zehn Prozent Arbeitslose gab, waren 23 deutsch; 1936 stellten daher die Deutschen im großen Heer von 846.000 Arbeitslosen mit 525.000 (62%) den größten Teil. [9]
Die Regierung leitete eine Reihe von Maßnahmen zur Behebung der Misere ein. Sie gewährte Exportprämien, legte Arbeitsbeschaffungsprogramme auf und förderte durch ein großes staatliches Investitionsprogramm die Eisen-, Maschinen-, Bau- und Rüstungsindustrie. Die staatlichen Investitionszuschüsse zur Förderung der Schwerindustrie wurden aber vornehmlich in den tschechischen und slowakischen Siedlungsgebieten vergeben und dort zum Teil ganz neue Industriestandorte aus dem Boden gestampft, während die vorwiegend in den sudetendeutschen Gebieten fertigende Leichtindustrie benachteiligt blieb. Dieser Trend verstärkte sich noch, als die deutschen Betriebe von den Aufträgen der kräftig angekurbelten Rüstungsindustrie wegen Unzuverlässigkeit ausgeschlossen blieben. Die ohnehin angespannte Situation wurde noch dadurch verschärft, dass die Regierung die Vergabe von Staatsaufträgen an deutsche Betriebe von der Einstellung tschechischer oder slowakischer Arbeiter abhängig machte. Viele deutsche Unternehmer standen vor der schwierigen Entscheidung, entweder den Staatsauftrag mit seinen harten Bedingungen anzunehmen, einen Teil der eingearbeiteten deutschen Mitarbeiter zu entlassen und sie gegen unerfahrene Tschechen und Slowaken einzutauschen oder den Betrieb zu schließen. Nach dem gleichen Strickmuster wurde bei der Gewährung von staatlichen Krediten oder sonstigen Förderungsmaßnahmen verfahren. Mit solchen und ähnlichen Maßnahmen versuchte Prag, die Wirtschaftskrise nationalpolitisch zu manipulieren. Alle Versuche, der in der Regierung sitzenden deutschen Parteien, das Schlimmste abzuwenden, blieben erfolglos.
Das Jahr 1933 läutete auch in der CSR eine Wende ein. Das Maß des Erträglichen begann sich für die Minderheiten, besonders für die Deutschen, randvoll zu füllen. Die ausgestreckte Versöhnungshand der aktivistischen Parteien wurde von der tschechischen Seite nie ergriffen. Es war allseits sichtbar, dass die politischen Ausgleichsversuche der deutschen Regierungsparteien auf der staatlichen Ebene unbeantwortet blieben. Die Bespitzelungen, Verhaftungen und Verhöre von Deutschen hatten in den letzten Jahren ständig zugenommen. Dies veranlaßte am 7. April 1932, also zu einem Zeitpunkt, wo in Deutschland noch die demokratischen Parteien die Regierung bildeten, alle nichtsozialdemokratischen Fraktionen des tschechoslowakischen Abgeordnetenhauses, [10] zu einem scharfen Protest gegen das staatliche Vorgehen. Die Kluft vertiefte sich, als den Abgeordneten der DNSAP am 10.2.1933 die parlamentarische Immunität entzogen und ihre Vertreter aus allen Kreistagen und Gemeinderäten entfernt wurden. Im gleichen Sinne wirkte das im Herbst 1933 ausgesprochene Verbot der DNP (Deutsche National Partei) sowie das am 29.5.1933 erlassene Verbot zum Empfang ausländischer (sprich reichsdeutscher) Rundfunksendungen.
Unter den Sudetendeutschen verbreitete sich die Meinung, dass ihre Parteien nicht stark genug seien, sich gegen die Willkür der tschechischen Staatsmacht durchzusetzen. Als daher Konrad Henlein am 1. Oktober 1933 die Sudetendeutsche Heimatfront (SHF) als Kultur- und Schicksalsgemeinschaft seiner leidgeprüften Landsleute gründete, strömten ihr die Mitglieder von allen Seiten zu. Ein Jahr später, in seiner Rede in Böhmisch-Leipa am 21.10.1934 vor 50.000 Zuhörern, distanzierte sich Henlein ausdrücklich vom Nationalsozialismus, forderte vom Staat die Anerkennung des sudetendeutschen Lebensraumes und Volksbodens, der Lebensrechte, des kulturellen und wirtschaftlichen Besitzstandes und des Arbeitsplatzes. Bei dieser Rede präzisierte er das Profil seiner Heimatfront folgendermaßen: Es entspricht ... unserer grundsätzlichen Überzeugung, dass sowohl Faschismus, wie Nationalsozialismus, an den Grenzen ihrer Staaten die natürlichen Voraussetzungen ihres Daseins verlieren und daher auf unsere besonders gearteten Verhältnisse nicht übertragbar sind ... Diese Distanzierung vom NS-Regime war kein taktischer Winkelzug. Sie entsprach vielmehr der ständestaatlichen Orientierung der Henlein-Partei auf der Grundlage der konservativen Ideen des Wiener Soziologen Othmar Spann.
Es war abzusehen, dass die Sudetendeutsche Heimatfront bei den für den 19. Mai 1935 angesetzten Nationalratswahlen den in der Regierung sitzenden sudetendeutschen aktivistischen Parteien Stimmenverluste zufügen würde. Benesch beabsichtigte noch bis kurz vor dem Wahltag ein Verbot der SHF. Staatspräsident Masaryk lehnte eine solche Maßnahme mit Hinweis auf die Verfassung ab. Daraufhin ließ Benesch am 19. April 1935, also vier Wochen vor der Wahl, per Regierungsbeschluß anordnen, dass die SHF ihren Namen in Sudetendeutsche Partei (SdP) umbenennen müsse. Durch diese kurzfristige Maßnahme sollte die sudetendeutsche Seite verunsichert und geschwächt werden. Zu aller Überraschung trat das Gegenteil ein. Das Wahlergebnis übertraf auf der gegnerischen Seite die schlimmsten Befürchtungen und schlug in Prag wie eine Bombe ein. Mit 1.249.497 Stimmen, bei einer sudetendeutschen Gesamtbevölkerung von knapp 3,4 Millionen, war die Sudetendeutsche Partei bei dieser Parlamentswahl nicht nur die stärkste deutsche Gruppe, sondern die stärkste Partei der CSR überhaupt geworden. Sie hatte 44 Mandate im Abgeordnetenhaus und 25 im Senat errungen. Die Sozialdemokraten waren von 21 auf 11 Mandate, der Bund der Landwirte von 12 auf 5 und die Christlichsoziale Partei von 11 auf 6 Sitze gesunken. Das tschechische Nationalstaatsdogma war nachhaltig erschüttert, und die Welt mußte plötzlich erkennen, dass in der CSR mehrere Nationen wohnten: Tschechen, Deutsche, Slowaken, Ungarn, Ruthenen, Polen u.a..
Henlein telegrafierte am 20.5.1935 an Staatspräsident Masaryk und bot den Regierungseintritt der SdP an. Das Telegramm wurde niemals beantwortet. Auch das war einer der vielen politischen Fehler des so gewieften Taktikers Benesch. Eine Einbindung der SdP in die Regierung hätte wahrscheinlich zu einer Schwächung der Partei, wenn nicht gar zu deren Spaltung geführt. Statt dessen setzte Benesch das Bündnis mit den aktivistischen Parteien fort. An den Grundzügen der bisherigen Politik änderte sich nichts. Im Gegenteil. In der ersten Sitzung des neugewählten Parlaments rief der Abgeordnete Frána Zeminová von der Tschechoslowakischen National-sozialen Partei (Benesch-Partei) seinen deutschen Parlamentskollegen zu: Wir haben euch gejagt und wir werden euch jagen und werden nicht früher ruhen und nicht rasten, bis die Staatsgrenze und Sprachgrenze übereinstimmend über die Kämme des Erz- und Riesengebirges verlaufen.
Als Staatspräsident Masaryk am 14. November 1935 aus Altersgründen zurücktrat, wurde nach längerem Ränkespiel Außenminister Dr. Eduard Benesch sein Nachfolger. Damit war die Beibehaltung der bisherigen unversöhnlichen Nationalitätenpolitik sichergestellt.
Die Zeitung Obrana Národná (Nationale Verteidigung), ein Sprachrohr des Präsidenten Benesch, schrieb am 15.8.1936: ... Das Grenzlerproblem ist die Besiedlung dieses Drittels (des Sudetenlandes) mit Leuten aus unserem Volke, ist die Hinausschiebung der heutigen Sprachengrenze bis an die tatsächlichen Landesgrenzen, ist die Erbauung eines vollkommen unüberwindlichen und verläßlichen Geschlechtes und unseres Blutes ... Ministerpräsident Milan Hodza äußerte am 11.11.1936: ... Von der Autonomie und vollen Gleichberechtigung der Deutschen wollen wir in keiner Richtung sprechen...
Im Berliner Reichsaußenministerium spielte man 1936 mit dem Gedanken, mit der CSR einen Nichtangriffspakt zu schließen. Den Tschechen sollte die Furcht vor dem großen Nachbarn genommen und als Gegenleistung den Sudetendeutschen eine weitgehende Kulturautonomie gewährt werden. Die reichsdeutschen Emissäre Prof. Albrecht Haushofer und Graf Trautmannsdorf führten u.a. zwei Sondierungsgespräche mit Präsident Benesch, der darüber am 18.12.1936 eine Notiz verfasste. Auf die Frage der beiden Emissäre, ... ob die ganze tschechoslowakische Nationalitätenpolitik nicht dazu führe, dass Tschechen ins deutsche Gebiet eindrängen, es unterwanderten und durchsetzten, dadurch das deutsche Gebiet schrittweise einengten und die Deutschen nach Deutschland trieben ..., antwortete Benesch: ... Es ist Tatsache, dass sich unter der Republik vieles zu Gunsten der Tschechen und gegen die Deutschen gewendet habe, dass die sogenannte ,Tschechisierung auf vielen Wegen durchgeführt werde und dass dieser Prozess weitergehen werde. Sie (die deutschen Gesprächspartner) sollten sich darüber keinen Illusionen hingeben, denn das ist der eigentliche Kernpunkt ... [11] Damit war der Versuch des Reiches, mit dem Nachbarn zu einem vertrauensvollen Verhältnis zu kommen, gescheitert. Die sudetendeutschen Probleme waren damals noch kein zentrales Thema der reichsdeutschen Außenpolitik. Dies änderte sich erst ab 1938.
Während die tschechische Regierung am bisherigen deutschfeindlichen Kurs festhielt, versuchte Henlein ab 1935 durch verschiedene Auslandsreisen, vor allem nach Frankreich und England, um Verständnis für die Autonomiebestrebungen der Sudetendeutschen zu werben, was ihm auch gelang.
Eine weitere Verschärfung der Situation brachte das Staatsverteidigungsgesetz der CSR vom 31. Mai 1936. Es setzte die verfassungsmäßigen Rechte außer Kraft: Polizeiliche Übergriffe und willkürliche Verhaftungen, vor allem von Sudetendeutschen, waren an der Tagesordnung. Gegen dieses Gesetz wandten sich nicht nur die Deutschen, es wurde auch von den Kommunisten und vor allem der Slowakischen Volkspartei bekämpft. Jetzt rächte sich, dass die Pittsburgher Abmachung seitens der CSR-Regierung nicht eingelöst wurde.
Die CSR errichtete ab 1936 an strategisch wichtigen Punkten entlang der Grenze zu Deutschland Bunker und Verteidigungsanlagen, die z.T. noch heute, z.B. an der Transitstraße zwischen Reitzenhain und Komotau, zu sehen sind.
Da die tschechische Regierung bis zum Frühjahr 1937 nicht ernstlich daran dachte, den Sudetendeutschen entgegenzukommen, im Gegenteil die Strangulierungsmaßnahmen immer mehr verschärfte, war auch beim stärksten Verbündeten Frankreich ein Umdenkungsprozess in Gang gekommen. Die Furcht vor der wieder erstandenen Militärmacht Deutschland saß dort sehr tief, eingedenk der zwei Kriege (1870/71 und 1914/18), die über das Land gegangen waren. Hinzu kam, dass in Paris und London immer mehr Stimmen laut wurden, die Zweifel an der Weitsichtigkeit des Versailler Diktates hatten und eine Revision desselben ins Auge fassten. Vor allem die Briten beobachteten die Verweigerungspolitik der tschechischen Regierung gegenüber dem sudetendeutschen Selbstverwaltungsverlangen sehr skeptisch. Der englische Premierminister Sir Neville Chamberlain machte in einer Unterhausrede am 24. März 1938 jede politische Hilfe für die CSR von substantiellen Zugeständnissen an die Sudetendeutschen abhängig. Die britische Regierung ließ bei einem Gespräch zwischen Außenminister Lord Halifax und dem französischen Botschafter Corbin wissen, ... dass es für ein angelsächsisches Volk unmöglich sei, die Waffen zu ergreifen, um die Durchführung des Selbstbestimmungsrechtes eines Volkes von 3.461 Millionen im Wege der Abstimmung zu verhindern ... Dem pflichtete der französische Außenminister bei.
Kurz vor dem Einmarsch in Österreich behandelte Hitler in seiner Rede vor dem Reichstag am 20. Februar 1938 die Schutzfunktion des Reiches gegenüber den in Österreich und in der CSR lebenden Deutschen.
Mit höhnischem Zynismus wies Ministerpräsident Hodza am 4. März 1938 die Anschuldigungen des deutschen Reichskanzlers mit der Behauptung zurück, dass die CSR ihre Verpflichtungen aus dem Minderheitenvertrag von St. Germain bisher voll erfüllt habe. [12]
Die vom 22. bis 25. März 1938 abgegebenen Erklärungen verschiedener sudetendeutscher Parteien sehen den Sachverhalt völlig anders. Der unkundige Leser dieser Schriftstücke fragt sich, welche der beiden Gruppen, Regierung oder sudetendeutsche Parteien, nun lügt.
Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich am 12./13. März 1938 und dem Anschluss an das Reich interessierte sich das Ausland stärker als bisher für die Minderheitenprobleme in der Tschechoslowakei. Insbesondere England befürchtete eine ähnliche militärische Lösung wie im Falle Österreichs. Die fasste Hitler wohl erst ein bis zwei Monate später ins Auge, als er den Auftrag zur Studie Grün gab, welche die Zerschlagung der Tschechoslowakei zum Gegenstand hatte.
Seit dem Frühjahr 1937 nahmen die Dinge unaufhaltsam ihren Lauf. Die Repressalien wurden verstärkt fortgesetzt. Die Slowakische Volkspartei hatte am 4./5.6.1938 ein radikales Autonomieprogramm für ihr Territorium gefordert. Der Weltöffentlichkeit wurde damit klar, dass es in der CSR nicht nur um die deutsche Frage, sondern auch um die Slowaken und andere Minderheiten ging.
Die SdP wollte bis weit in das Jahr 1938, und Henlein bis in das Frühjahr 1938, nur eine gesicherte aber breit fundierte Autonomie für das Sudetenland. Als Henleins Stellvertreter Karl Hermann Frank immer stärkeren Einfluss gewann, bildete sich in der Partei ein zweiter Flügel, der in dem Anschluss an Deutschland die einzig richtige Lösung der Sudetenfrage sah. Der Anschluss Österreichs, der breiteste Zustimmung in der dortigen Bevölkerung gefunden hatte, verschob die internationalen politischen Gewichte vollkommen.
Die jungaktivistischen Parteien kündigten Ende März 1938 ihre Mitarbeit in der CSR-Regierung auf. In ihrer schriftlichen Begründung nannten sie dafür u.a. folgende Gründe: ...Der im Jahre 1926 begonnene Versuch, im Wege der Mitarbeit in der Regierung zu einer nationalen Befriedung im Staat und zur Sicherung der Lebensrechte der sudetendeutschen Volksgruppe zu gelangen, ist gescheitert. Ebenso hat die Politik, die seit dem 18. Februar 1938 eingeleitet wurde, versagt .... [13] Die Christlichsozialen, der Bund der Landwirte und die Gewerbepartei assoziierten sich mit der Sudetendeutschen Partei.
Seit dem Einmarsch Hitlers in Österreich waren Frankreich und England in eine psychologische Zwickmühle geraden. Vierundzwanzig Jahre vorher waren die Westmächte in den Ersten Weltkrieg gezogen, um u.a. das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu verwirklichen. Dies war einer der vorgeschobenen Hauptgründe für die Zerschlagung des Vielvölkerstaates der österreichisch-ungarischen Monarchie, die als Völkerkerker diffamiert wurde. Der amerikanische Präsident Wilson hatte für eine solche Nachkriegsneuordnung seine bekannten 14 Punkte formuliert. Nun verletzte ihr tschechischer Schützling seit der Staatsgründung diese Rechte gegenüber seinen Minderheiten auf das Schwerste. Auch deshalb gaben die Westmächte unmissverständlich zu verstehen, dass sie Prag nicht zu Hilfe kommen werden, wenn sich die CSR-Regierung nicht alsbald zu grundlegenden Autonomiezugeständnissen gegenüber den Sudetendeutschen und den anderen Minderheiten durchringen könne. Englische und französische Regierungsmitglieder äußerten in Gesprächen ganz offen, dass im Falle eines Krieges und nach einem erwarteten militärischen Sieg über Deutschland die CSR in ihren bisherigen Grenzen nicht zu halten sei und die mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiete an Deutschland angegliedert werden müssten. [14] In Kenntnis dieser taktischen Ermahnungen aus Paris und London signalisierte auf eine Anfrage aus Prag die Sowjetunion, dass sie ihren Beistandsverpflichtungen (aus dem Vertrag von 1935) nachkommen werde, wenn dies auch Frankreich tue. Aus Furcht davor, von dem östlichen Nachbarn umklammert zu werden, verweigerten die Polen und Rumänen den Russen aber das Durchmarsch- und Überfliegungsrecht. Damit waren im Grunde schon die Weichen für den Zusammenbruch der CSR gestellt. Das Ende dieser Republik hatten weder Henlein noch Hitler oder die Sudetendeutschen, sondern allein Benesch und seine blinden Nationalisten zu verantworten. Alles, was nun folgte, waren die verzweifelten Versuche eines tödlich Getroffenen.
Mit einem Memorandum der drei sudetendeutschen Regierungsparteien vom 27.1.1937 machten diese einen letzten Versuch, eine Grundlage für ein friedliches Zusammenarbeiten aller Nationen im Staat zu schaffen. In zähen Verhandlungen konnten mit Einschränkungen fünf Punkte durchgesetzt werden, die in eine Verordnung vom 18. Februar 1937 aufgenommen wurden. [15] Ihre praktische Umsetzung scheiterte jedoch, weil das Übereinkommen von höchsten tschechischen Kreisen und der Beamtenschaft sabotiert wurde.
Die Sudetendeutsche Partei reichte am 27. April 1937 im Parlament fünf Gesetzentwürfe zum Volksschutz ein, die mit den übrigen Minderheiten im Staat abgestimmt waren. [16] Sie wurden an die Ausschüsse verwiesen und dort nicht weiter bearbeitet. [17]
Am 20. Mai 1938 verfügte die Prager Regierung eine Teilmobilisierung. Diese wurde offiziell damit begründet, dass es sich um die Unterweisung im Gebrauch neuer Waffen handle und die innere Sicherheit gewährleistet werden müsse. Als weitere Rechtfertigung wurde ein reibungsloser und störungsfreier Verlauf der bevorstehenden Kommunalwahlen genannt.
Dieses Säbelrasseln gegenüber dem großen Nachbarn Deutschland löste in der tschechischen Bevölkerung Jubel, im Ausland aber Befremden aus. Auf der sudetendeutschen Seite führte dies bei den Ende Mai/Anfang Juni 1938 anstehenden Gemeindewahlen zu einem Sieg der Sudetendeutschen Partei, die ca. 90% der Stimmen errang. In vielen deutschen Orten gab es gar keine zweite Liste.
Lesen Sie mehr zu diesem noch immer brisanten Thema im Erinnerungsbuch ..., z.B. die Kapitel:
Vorbemerkung |
Die Erste Republik: Die Zeit vor 1918 |
Die Erste Republik: Frühjahr und Sommer 1938 |
Die Erste Republik: Einmarsch 1938 und Protektoratsbesetzung 1939 |
Die Erste Republik: März bis August 1939 |
Die Erste Republik: Vorbereitungen zur Vertreibung |
Die Erste Republik: Kriegsende |
Die Erste Republik: Enteignung der örtlichen Betriebe |
Die Erste Republik: Der erste tschechische Bürgermeister |
Tschechische Greueltaten: Das Martyrium der Komotauer deutschen Männer |
Tschechische Greueltaten: Die Ermordung von Gemeindebürgern |
Tschechische Greueltaten: Erlebnisberichte |
Die Vertreibungen: Die wilden Vertreibungen |
Die Vertreibungen: Die offiziellen Vertreibungstransporte |
Die Vertreibungen: Antifaschistentransporte |
Das Einleben in der Fremde |
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier ausdrücklich betont, dass dem Verfasser nicht daran gelegen ist, Schuldzuweisungen vorzunehmen oder alte Ressentiments wieder aufleben zu lassen. Angesichts der selbst im Jahr 2002 fortbestehenden Weigerung der tschechischen Regierung, das Unrecht der Vertreibung als solches anzuerkennen und zu benennen, sowie einer massiven verbalen Geschichtsklitterung auf vielen öffentlichen Hinweistafeln in den ehemals deutschen Gebieten sowie in Geschichts- und Lehrbüchern erscheint es jedoch geboten, die tatsächlichen Verhältnisse in der tschechischen Republik vor 1945 so zu schildern, wie sich sich der deutschen Bevölkerung darstellten und wie sie vielfach von der internationalen Geschichtsschreibung bestätigt werden. Dieses Kapitel des Erinnerungsbuchs ... entstand aus der tiefen Überzeugung, dass nur aus Kenntnis von Fakten und Beweggründen die Anerkennung gegenseitigen Unrechts und Leids und daraus der Wille und die Möglichkeit eines besseren Zusammenlebens beider Völker ein einem größeren Europa erwachsen können.
[1] Dokumente zur Sudetenfrage von Fritz Peter Habel S.117.
[2] Dokumente zur Sudetenfrage von Fritz Peter Habel, S.118.
[3] Dokumente zur Sudetenfrage von Fritz Peter Habel, S.128.
[4] Dokumente zur Sudetendeutschen Frage 1916 - 1967 Nr.44, S.71.
[5] Deutsche Geschichte - Die Tschechoslowakei S.50.
[6] Dokumente zur Sudetenfrage S.133.
[7] BHZ 7/95 S.10.
[8] Begleitband zur Ausstellung Odsun - Die Vertreibung der Sudetendeutschen S.89.
[9] Geschichte Böhmens 1848 - 1948 von Friedrich Prinz, S.405.
[10] Dokumente zur Sudetendeutschen Frage 1916 - 1967 Nr.70, S.121.
[11] Dokumente zur Sudetenfrage von Fritz Peter Habel, S.189.
[12] Dokumente zur Sudetenfrage S. 201 und 202.
[13] Die Zeit, Prag 23 3.1938.
[14] Dokumente zur Sudetenfrage S.203.
[15] Dokumente zur Sudetenfrage von Fritz Peter Habel, S.190.
[16] Die Tschechoslowakei 1918 - 1992 von Nikolaus von Preradovich S.119.
[17] Dokumente zur Sudetenfrage von Fritz Peter Habel, S.192.
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